Alfons Burger - 1899-1967

Auf der Flucht

Es war im Februar 1945, als der Krieg zu Ende ging. Aufgelöst zogen sich die deutschen Truppen in das Innere des Landes zurück, waren aber gezwungen, nur des Nachts auf den Landstraßen dahinzuziehen, um den Flugzeugen zu entgehen, die sie am Tage unablässig verfolgten.

Allnächtlich hörte die Frau, die allein mit ihrem Kind in dem Häuschen am Berghang wohnte, die Geräusche der Truppen auf der Straße und selbst, wenn sie spät nach Mitternacht erwachte, ertönte das Klappern der Hufe müder Pferde, das Rollen der Wagenräder oder seltener das Brummen von Motoren, soweit ihnen der Brennstoff nicht ausgegangen war.

Sofia + Alfons Burger

Eines Nachts erwachte sie aus dunklen Träumen und horchte auf. Diesmal waren die Töne, die sie vernahm, anders als in den vorigen Nächten. Wohl war auch jetzt wieder das Getrappel vieler Pferde zu hören, doch waren es fremdartige Stimmen, die den Pferden zuriefen. Melodische Stimmen waren es, die den Tieren zu schmeicheln schienen, doch nicht nachzulassen und noch einmal zu versuchen, den steilen Berg zu nehmen. Schließlich trat unvermutet Ruhe ein, alle Pferde und Fahrzeuge hielten fast zugleich an, offenbar unfähig die Steigung zu nehmen. Harte, barsche Rufe rissen nun die Stille auf, von Männern, die mit norddeutschem Befehlston der offenbar ausländischen Mannschaft befahlen, die Pferde nicht länger zu schonen und das letzte aus ihnen herauszuholen. ”Gebt ihnen die Peitsche”, schrien sie, doch nichts rührte sich als allgemeines Gemurmel. Endlich schien sich das, was da auf der Straße im Dunkel rumorte, auf eine vorläufige Ruhepause einzurichten.

Jäh erhob sich die Frau aus dem Bett, als schrill die Hausglocke läutete. Rasch kleidete sie sich an und öffnete zögernd die Türe. Ein deutscher Soldat stand da mit trübem, übermüdetem Gesichtsausdruck und hinter ihm still eine Frau, die ein Bündel sorgsam in den Armen barg. ”Wir haben hier eine Frau”, sagte der Soldat, ”eine Russin, die ihr Kind versorgen und die Milchflasche wärmen möchte. Es wird nicht lange dauern”. Sie traten ein, der Soldat mit einem Koffer und die Russin mit ihrem vermummten Bündel. Alsbald zeigte sich, was das Bündel enthielt, als die vielen Tücher auseinandergefaltet wurden und ein Kind zum Vorschein kam, lieblich und träumend. Ruhig, mit sicheren Bewegungen wusch die Mutter das Kind, während der Soldat den Koffer öffnete, in dem sich, sauber geschichtet, die Windeln und alles das befand, wessen ein kleines Wesen bedarf. Es seien russische Truppen, Kosaken, die unter deutschem Kommando stünden, sagte der deutsche Soldat. Die Frau sei Zahnärztin und es sei so schwer für sie, das Kind auf der Flucht zu versorgen. Es war nicht zuerkennen, welche Rolle der Soldat spielte, der müde und fast teilnahmslos, doch immer ergeben der Russin diente, er mochte wohl gar der Vater dieses Kindes sein, das so unter seltsamen Umständen einer gänzlich ungewissen Zukunft entgegenzog. Seltsam und zugleich wunderbar erschien jedenfalls die Ruhe, Umsicht und mütterliche Freude, mit der die Russin das Kind betreute. Wohin sie denn noch ziehen wollten, wurde sie gefragt. Dies wisse sie wahrhaftig nicht, bedeutete sie in mühsamen Deutsch, so viele Nächte seien sie nun gewandert, hätten viele Männer am Rhein verloren und noch sei kein Ende abzusehen. - Warum sie noch weiter nach Osten fahren? Wolle sie denn zu den Russen, deren Heere vom Osten her sich näherten? Nur das nicht, gab sie zur Antwort, das wäre ein Ende mit Schrecken. - Wohin denn noch? - Irgendwohin, sagte sie und schien zu denken, es sei gleichgültig, wohin, wichtig allein sei, daß das Kind lebt, das da ruhig atmet und keinen Krieg kennt, keine Flucht, kein Elend.

Draußen zogen die Pferde an, zum Zeichen, daß der Aufbruch bevorstand. Schweigend erhob sich die Russin, nahm das Kind fest an sich und dankte der deutschen Frau indem sie sich über ihre Hand beugte und sie küßte.

Es gab wohl keine Rettung für diese Menschen, die da wieder in die finstere Nacht hinauszogen. Und doch strahlte von dieser gefährdeten Mutter eine geheimnisvolle Kraft aus und ein Vertrauen darauf, daß da, wo ein Kind träumt, das Leben unzerstörbar ist.

Alfons Burger (1954)

(Über ein Erlebnis von Sofia Denninger, wie meine Mutter damals noch hies. Wenn sie darüber sprach, kam mehrmals der Hinweis, daß wenn die Russin das Kind bei ihr gelassen hätte, ich heute noch ein Geschwister mehr hätte. Denn in der damaligen Zeit wurden oft Kinder vor anderen Haustüren abgelegt, von verzweifelten Müttern die nicht mehr die Kraft für ihre Kinder hatten.
Ich bin mir sicher, daß meine Mutter das Kind dieser Russin bei sich behalten hätte.)

Veröffentlicht in dem Buch: MENSCHLICHKEIT - HUMANITY zugunsten Amnesty-International; ISBN 3-035192-62-2

Zerbrochenes Glück

Klein Peter fuhr zum ersten Mal mit der Eisenbahn. Nun genau genommen, war ihm die Eisenbahn nicht neu, denn schon lange zuvor übte er das Fahren mit Eisenbahnzügen, allerdings nur zu Hause mit seinen Holzbausteinen. Die langen Hölzer waren die Wagen und die kleinen Hölzer auf den länglichen waren die Menschen, die fuhren. Jetzt also fuhr er, der Dreijährige, wirklich und tat es mit Selbstverständlichkeit. Manierlich, doch nicht ohne Eigenwilligkeit saß er neben der Mutter und folgte den neuartigen Ereignissen mit wachen Augen. Die Mutter kam bald in ein Gespräch mit einer gegenübersitzenden sympathischen Frau, die mit weißen Haaren seltsam jugendlich wirkte. Sie fahre, wie sie sagte, nach München, um dort lange gehegte Wünsche zu erfüllen. Ihr einziger Sohn habe dort studiert, sei aber im Kriege geblieben. Nun wolle sie alle Orte und Menschen besuchen, mit denen ihr Sohn zu tun hatte und von denen er ihr, die damals weit entfernt von ihm leben mußte, viel und mit Liebe erzählt hatte. Sie wisse nicht, wo ihr einziges Kind begraben sei, so könne sie nicht wie andere Mütter wenigstens am Grabe ihm nahe sein. Statt dessen fühle sie sich getrieben, die Orte aufzusuchen, die ihm zuletzt in glücklicheren Tagen etwas bedeutet hatten. Sie sagte das ohne sichtbaren Schmerz, ja mit fast heiterem Lächeln, als ginge sie einem unsichtbaren Wiedersehen mit einem geliebten Menschen entgegen.

Indessen war ein junger Mann in amerikanischer Uniform eingetreten und blieb im überfüllten Abteil neben ihnen stehen. Gelangweilt blickte er auf seine Umgebung, wandte sich aber bald mit erwachtem Interesse dem Kinde zu, nicht wissend, wie es anzufangen sei, mit ihm in Kontakt zu kommen. Schließlich zog er ein Etwas aus der Tasche und hielt es dem Kind entgegen. Es war ein kleiner Maßkrug, den er als lustiges Andenken irgendwo erworben haben mochte. Ob er dem Kleinen das Ding schenken dürfe, sagte er wie zur Entschuldigung; er habe einen Bruder drüben in Amerika, der genau so klein sei und fast genau aussehe wie dieses Kind. Lächelnd ließ es die Mutter geschehen, daß er es auf den Arm nahm und mit ihm zu spielen begann. Indes er ihm mit fremdartigen Lauten seine Zuneigung zeigte, war er gewiß auch einem anderen Kinde, seinem kleinen fernen Bruder nahe.

In München angekommen, war Klein Peter nicht mehr davon abzubringen, das Krüglein aus den Händen zu geben. Mit festem Griff trug er es vor sich her, als er neben der Mutter durch die Straßen der Stadt trippelte.

Sie vermieden die belebten Hauptstraßen und strebten gemächlich ihrem Ziele zu, gerieten dabei aber unversehens in eine Gegend, die noch sichtlich vom Bombenkrieg gezeichnet war. Hinter eingestürzten Fassaden lag noch der übelriechende Schutt, auf dem da und dort schon Gesträuch und Unkraut wuchs, selbst der Gehweg war mit wildem Geröll bedeckt. Hatte die Mutter geglaubt, abseits vom Menschengetriebe leichter mit dem Kind voranzukommen, so sah sie sich jetzt von den Spuren des vergangenen Krieges gehindert. Ungeduldig versuchte sie, dem Kind das Krüglein aus der Hand zu nehmen, damit es besser auf die Trümmer achte. Doch das Kind wehrte sich, stolperte und sah plötzlich das geliebte Spielzeug zerbrochen. Weinend hielt es nun am Henkel das zerbrochene Gefäß vor sich hin und war auch jetzt nicht zu bewegen, es aus der Hand zu geben.

Als sie an einem verfallenen Tor vorübergingen, hielt die Mutter an und sagte begütigend, man könne das Ding einstweilen hier aufbewahren und es später wieder abholen. Dem Kind schien dieser Vorschlag einzuleuchten, denn nach kurzem Zögern suchte es nach einer Stelle, die würdig war, das Krüglein aufzunehmen. Auf einen Sockel, auf dem einstmal eine Marmorstatue gestanden haben mochte, legte er es bedächtig nieder und ging wohlgemut weiter, nicht ohne sich mehrmals nach dieser Stelle umgesehen zu haben.

Viele Stunden waren vergangen, als sie den Rückweg von dem Geschäft, das sie als ihr Ziel schließlich erreicht hatten, antraten und müde dachte die Mutter daran, auf kürzestem Weg zum Bahnhof zu gelangen, um die Heimreise anzutreten. Durch Seitenstraßen wanderten sie zurück, doch suchte die Mutter jenes Trümmerviertel zu vermeiden, das sie auf dem Hinweg so sehr behindert hatte. Bald mußte sie jedoch bemerken, daß solch düsteren Gegenden offenbar nicht auszuweichen war und wußte obendrein nicht mehr recht, wo sie sich befand, als sie wieder in einen zerstörten Straßenzug einbiegen mußte. Doch merkwürdig, das Kind zog die Mutter mit sanfter Gewalt alsbald zu der anderen Seite der Straße hin, zu einem verfallenen Tore, das die Mutter erstaunt nun als die Stelle erkannte, wo das Krüglein abgestellt worden war. Richtig, es war noch an der gleichen Stelle auf dem Sockel, der ehedem einer Marmorstatue gedient haben mochte.

Mit Wiedersehensfreude betrachtete das Kind sein halbzerbrochenes Krüglein und schien geneigt, es wieder an sich zu nehmen. Die Mutter dagegen sah den Torso mit unverhohlener Abneigung und meinte, es gehöre nun an diesen Ort und solle hier verbleiben. Vielleicht erschien der verwahrloste Ort auch dem Kind unheimlich und die Scherbe nicht mehr so begehrenswert, jedenfalls ließ es sich bald mit dem Versprechen beruhigen, es werde ein neueres und schöneres Krüglein bekommen.

Einträchtig verließen sie die trostlose Stätte und gewannen eine Straße, die von neugebauten Häusern umsäumt war, die verlassenen Trümmer wie einen bösen Traum zurücklassend.

Munter mischten sie sich nun unter die Menschenmenge, die wie von unsichtbarer Hand getrieben, dahinströmte. Niemand bemerkte, daß an einer Ecke eine einsame Frau verharrte, die mit weißen Haaren seltsam jugendlich wirkte. Mit abwesendem Blick sah diese Frau in die Ferne und schien Gedanken nachzuhängen, die ihrem schönen Antlitz einen Zug der Trauer verliehen.

Etwas schien zerbrochen an dieser mütterlichen Frau, doch stand auf  ihrer Stirn ein Leuchten, jenseits von Schmerz und Trauer.

Alfons Burger (1953)

Am Fluß

Am Ufer des Flusses liege ich mit Frau und Kind und lasse mich bräunen. Das Kind spielt selbstvergessen, füllt seine Eimerchen mit Wasser und bringt es zu der winzigen Grube, die ich im heißen Sand ausgehöhlt habe. Was kümmert uns noch der breit dahinströmende Fluß? Ganz hingegeben beugen wir uns über den selbstgeschaffenen See, den wir so nennen, obwohl es kaum ein Tümpel ist. Lange hält das kindliche Vergnügen nicht an, denn allzubald verflüchtigt sich das Wässerchen im Sand und neue Ziele will das Kind betreiben. “Komm”. sagt es, “schwimm!” Ich führe den Kleinen an eine seichte Stelle des Flusses und lasse ihn schwimmen. Auf den flachen Steinen liegt er nun, wo kaum mein Fuß umspült wird und ich sehe zu, wie das Kind mit Armen und Beinen zu rudern beginnt. Gewiß fühlt es dieselbe Wonne wie ich, wenn ich, von den Wogen getragen, mich dem Fluß ganz anvertraue.

Ein Mann nähert sich, angetan mit hohen Stiefeln, das Angelgerät in der Hand. Langsam stelzt er hinaus zu den tiefen Stellen und prüft bedächtig die Schnur mit dem Köder. Dann schnellt es sie an und wartet. Dieses stille, unbewegliche Warten überträgt sich unwillkürlich auf uns und auch wir warten nun. “Siehst du”, sage ich, “der Mann fängt die Fische, die da draußen schwimmen”. Mein Kind scheint es besser zu wissen. “Fisch will nicht, Fisch geht fort, will nicht tot sein”, gibt er zur Antwort und wendet sich wieder den feuchten Steinen zu. Ich beginne, nachzudenken und wende meine Sympathie unversehens den Fischen zu, die da irgendwo in der feuchten Tiefe verharren. Ich wünsche ihnen alles Gute und langes Leben, dem Fischer aber langes Warten und vergebliches Hoffen. Er ist ein alter Mann, dieser Fischer, und blickt versonnen zu dem Kind herüber. Will er eine Unterhaltung anknüpfen? “Ein Geduldspiel ist es”, ruft er mich an und ich nähere mich wißbegierig, um vielleicht mehr zu erfahren von dem Handwerk und den Kniffen, mit denen man Fische fängt. Hoffte ich nicht immer schon, es möchte mich jemand lehren, ein richtiger Fischer zu werden, damit ich auch des Vergnügens teilhaftig werde, mit Geduld und stiller Freude an den Gewässern meiner Heimat zu streifen? Daß die Fische dann von meiner Hand sterben müßten, hatte ich nie so recht bedacht. Es war wohl selbstverständlich, daß auch die Fische nicht ewig leben können und sicher würde es meiner Frau behagen, mit billiger Speise aufzuwarten.

Doch der Fischer wendet sich von mir ab und ist nur mehr für die Angelgerte da, die sich strafft und neigt. Es ist klar, ein Fisch hat angebissen, schon zuckt sein silberner Leib empor, nichts hilft mehr, ein eleganter Schwung der Gerte schnellt ihn auf die Steine des Ufers. Da liegt er hilflos, zuckt und windet sich und doch liegt so nah das Element, dem er entrissen ist.

Gar zu eilig ist der Fischer, seine Beute zu ergreifen, er rutscht und fällt und klatscht in die Nässe. Ich rühre mich nicht, ihm beizustehen. Merkwürdig genug, freut es mich fast, ihn da zu sehen, wo es dem ohnmächtigen Fisch nicht mehr vergönnt ist, zu leben. Beide, Fisch und Fischer schnappen gierig nach Luft und beiden ist eines gemeinsam; die Todesangst. Dem Fisch ist nicht mehr zu helfen, dem Fischer aber springe ich jetzt bei und ziehe ihn an seichtes Ufer. Benommen erhebt er sich und blickt mit leichtem Grausen zu der tiefen Stelle, an der ihn seine schweren Stiefel gefangen hielten. Schweigend löst er dem Fisch die Angelhaken aus dem Kiefer und fast bin ich versucht, nun auch den Fisch zu retten und ihn mit raschem Griff dahin zu werfen, wo ihm allein noch Rettung wäre. Doch lächelnd reicht der alte Mann mir seine Beute und will mir danken durch diese Gabe. Ich kann mich entschließen, ihn anzufassen, den angstvoll schnappenden, mit gläsernen Augen starrenden, im glänzenden Schuppenkleid prangenden Leib. “Lebend bleibt er länger frisch, dieser prächtige Kerl”, ermuntert mich der Mann, “wenn es ihnen aber lieber ist, kann ich ihn auch gleich totmachen”. “Ja, tun sie das”, wirft meine Frau ein und ehe ich mich versehe, wird dem prächtigen Kerl das Lebenslicht ausgeblasen.

Merkwürdig nun, da er bewegungslos daliegt, offenbar tot, bin ich beruhigt und sehe mit gewisser Befriedigung, wie er im Korb meiner Frau verschwindet. “Er wird heute Abend noch blau gesotten”, stellt sie fest und in alter Gewohnheit des Widerspruchs bemerke ich, daß mir Gebratenes besser schmeckt. “Gut”, sagt sie, dann wird er gebacken.

Am Abend liegt er gebacken auf dem Tisch und schmeckt herrlich. Der ältere Sohn, der nicht dabei war, als der prächtige Kerl noch lebte, fragt kauend, wo man am Sonntag solche Dinge kaufen könne. Mit listiger, schalkhafter Miene fabuliert die Mutter: “Beim Baden sind wir tief hinabgetaucht und da hat der Vater den Fisch gepackt”. Erinnert sie sich, daß der Sohn von Tiefseetauchern schwärmt, die sich nicht scheuen, mit Haien zu kämpfen? Will sie mich zum Helden der Tiefsee erhöhen? “Wirklich ?” bemerkte der Junge trocken, “wenn ich es getan hätte, müßte ich hören, ich sei ein elender Fischräuber”.

Jedenfalls schmeckte er prächtig, der Fisch und so billig. Noch dazu das Geschenk für einen “Lebensretter”.

Alfons Burger (1953)

Die Meistergeige

Meine Eltern waren überzeugt, daß sich die Kinder musikalisch betätigen sollen. Wir lebten in bescheidenen Verhältnissen und konnten uns keine teuren Musikinstrumente leisten. So begnügten wir uns damit, zweistimmig Volkslieder oder Kirchenlieder zu singen. Schließlich kaufte man meiner Schwester, die etwas älter war als ich, eine Zither, ich aber sollte lernen, die Geige zu spielen.

Mein Onkel war Organist; als er von dem Vorhaben erfuhr, schenkte er mir alsbald eine Geige. Aus Sparsamkeit wurde diese nicht in einem Holzkasten, sondern in einem Sack aus grünem Tuch verwahrt. Das hatte den Nachteil, daß man auf dem Gang zum Musiklehrer überall als das Lind armer Eltern angesehen wurde, wenigstens hatte ich das bestimmte Gefühl, daß mich viele Leute als arm betrachteten, nur weil mein größter Reichtum, die Geige, in einem armseligen Futteral geborgen war.

Vielleicht war dieser Umstand einer der Gründe, warum mir das Spielen auf der Geige nicht so recht gelingen wollte. Wer das edelste aller Instrumente schon in jungen Jahren mit Hemmungen, statt mit uneingeschränkter Liebe betrachtet, wird sich nie über die unsäglichen Schwierigkeiten der ersten Geigengriffe und Bogenführung hinweg zu einer freien Tongebung aufschwingen können.

Die Jahre vergingen. Ich war volljährig geworden, die Schülergeige aber lag vergessen und verstaubt in einer Ecke. Eines Tages erschien in meinem Elternhaus ein bettelnder Zigeuner, der sich erbot, seine Geige für geringes Geld zu verkaufen. Meine Mutter bangte um unser Hab und Gut, als sie den Gesellen mit dem wirren Haar gewahrte und drängte, ihn mit einem Geschenk zu verabschieden. Zu ihrem Entsetzen holte ich meine Fiedel hervor und verglich sie mit der seinen. Eine Kindervioline war für mich, so überlegte ich, ohnehin nicht mehr zeitgemäß, sein Instrument aber war größer und obendrein von schönerer Farbe mit ehrwürdig dunkler Tönung, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Als der Zigeuner mit ausladenden Bewegungen seine Violine strich, um ihre Vorzüge zu demonstrieren, sträubte sich sein gestutztes Schnurrbärtchen gar gewaltig. Bald wußte ich nicht mehr, ob es die gewaltsamen Töne waren, die mich hinrissen oder sein fanatisch dunkler Blick, mit dem er mich herauszufordern, ja, zu unterjochen schien. Er war einem Tausch nicht abgeneigt und fragte nur, was ich ihm außerdem noch geben könnte.
Als ihm ein Hut angeboten wurde, der wenig gebraucht war und mir nicht passen wollte, sah er diesen begierig an, verlieh ihm mit wenigen entschiedenen Handgriffen ein abenteuerliches Aussehen und besah sich zufrieden im Spiegel, als er mit diesem kühnen Gebilde sein nicht weniger kühnes Haupt bedeckt hatte. Der Handel war bald geschlossen und erst, als der Zigeuner zur Erleichterung meiner erschreckten Mutter abgezogen war, dämmerte mir eine Ahnung, daß ich ein vertrautes Stück meiner geborgenen Kindheit leichtfertig verloren und dafür etwas in Händen hatte, das unbekannt, von Geheimnis umwittert und abenteuerlich erschien.

Die Jahre vergingen. Vom Geheimnis und Abenteuerlichen des Lebens verspürte ich manches, wenn auch die Geige in einer Ecke ihr kümmerliches Dasein fristen mußte, ohne gespielt zu werden. Ich hatte sie, als ich heiratete, in mein neues Heim genommen, obwohl sie nichts als unnütz für mich war.

Eines Tages öffnete meine Frau den Kasten, in dem die ominöse Geige ruhte und war entschlossen, den verstaubten Gehäuse mit dem Staubsauger energisch zu Leibe zu rücken. Mit geborstenen Saiten lag es da, das fast vergessene Instrument. “Die Geige wird noch ganz verkommen, wenn sie nur herumliegt”, sagte sie, “wäre es nicht besser, sie zu verkaufen?”

“Meinetwegen”, erwiderte ich, “es lohnt sich kaum, man bezahlt nicht viel.”

“Wer weis”, meinte sie und sah neugierig durch die Schallöcher in den Leib der Geige, “hast du gelesen, was auf dem Zettel steht, der da drinnen aufgeklebt ist?”

“Jakob Stainer.”

Mit raschem Griff schlug sie im Lexikon nach: “Stainer Jacob, ein berühmter Geigenmacher, geboren am 14. Juli 1621 in dem Dorf Absom in Tirol, bildete sich in Cremona in den Werkstätten der Amati und heiratete auch eine Tochter Nicolo Amati’s. Darauf ließ er sich in seinem Geburtsdorf als Geigenmacher nieder. Nahrungssorgen zwangen ihn anfangs, sehr schnell zu arbeiten, da er für eine Geige selten mehr als 6 fl erhielt. Um 1650 begann sein Ruf sich zu verbreiten und von vielen Höfen liefen Bestellungen ein. Er konnte nun bei besseren Preisen auch mehr Sorgfalt auf seine Arbeiten verwenden. Nachdem seine Frau gestorben, zog er sich in ein Benidiktinerkloster zurück und verfertigte dort noch 16 Geigen, die das Beste waren, was er je geliefert und die er teils dem Kaiser teils den deutschen Kurfürsten übermachte. Von diesen berühmten sogenannten Kurfürstengeigen ist wenig erhalten. Er starb im Kloster 1683.”

“Jakob Stainer!, wiederholte sie überlegen, “dann ist also die Geige von diesem berühmten Meister gebaut worden.”

“Meinst du?”

“Warum nicht? Eine Meistergeige ist es also.”

“Oder eine ganz gewöhnliche Fälschung. Der Zettel besagt nichts.”

“Man kann nie wissen.”

“Was ich weis, ist, daß ich das Ding um eine Kleinigkeit erworben habe. Noch dazu von einem Zigeuner.”

“Wer weis, wo er sie gestohlen hat.”

“So geben wir sie an den zurück, dem sie gehört.”

“Wenn wir ihn finden.”

Es dauerte nicht lange, da war die Geige verschwunden. Ich hätte sie kaum vermißt, wenn nicht bald darauf meine Frau mit geheimnisvoller Miene erzählt hätte, daß sie wahrscheinlich echt sei. Allerdings müsse sie noch von einem auswärtigen Kenner begutachtet werden. Es sei richtig, daß der Zettel im Innern der Geige nicht viel zu bedeuten habe, aber gewisse Merkmale würden auf meisterliche Eigenschaften hinweisen.

In den folgenden Tagen herrschte freudige Stimmung im Hause.

Verborgene Wünsche, die bisher unterdrückt worden waren, traten offen ans Tageslicht. Es gab so viele Dinge anzuschaffen, die zwar nicht unbedingt nötig, aber zu schön waren, um sie nicht für wünschenswert zu halten. Und außerdem: Saß man nicht ständig zu Hause, wo es an sich ganz gemütlich war? Eine Reise nach dem Süden wäre der Gipfel der Lust.

“Eine Geige von so hohem Wert gehört einzig und allein dem rechtmäßigen Eigentümer”, wendete ich sorgenvoll ein.

“Nach so langer Zeit wird sich niemand melden”, kalkulierte sie, “übrigens ist es durchaus denkbar, daß auch unter Zigeunern ein wertvolles Instrument zu Hause war. Sie wußten nur nicht, welchen Schatz sie besaßen.”

“Abwarten!” beendete ich die Zukunftsmusik.

Abwartend konnte ich nicht umhin, von einem Musikschrank zu träumen und von Schallplatten der teuersten Sorte. Unvorsichtig, wie ich war, bekannte ich meine geheimen Wünsche. Doch ich fand wenig Verständnis. Ich wurde zwar getröstet mit dem Hinweis, daß meine Wünsche nicht übel seien, doch müßten sie noch zurücktreten, solange man nicht das Dringendste angeschafft habe. Es war schwer zu entscheiden, was eigentlich am wichtigsten war. Alles konnte man nie haben und auf weniges konnten wir uns nicht einigen.

Die Einigkeit, die uns bisher so glücklich machte, schien verflogen. Dahin war die freudige Stimmung, das friedliche Einvernehmen, die selbstverständliche Zufriedenheit. Bohrendes Mißtrauen stand auf und gab allen vertrauten Dingen der Häuslichkeit ein seltsam düsteres Gepräge. Das Geplätscher der heiteren Wechselreden war verstummt und jedes Wort wog jetzt schwer wie Blei.

Langsam zogen sich die Gewitterwolken am Himmel des Familienkreises immer drohender zusammen und unwillkürlich wartete ich mit Ungeduld auf den reinigenden Blitz. Doch kam es nicht zu Sturm und Donnerrollen, denn eine Nachricht genügte, um die bedrängenden Horizonte aufzuhellen. Das Gutachten des Kenners war endlich eingetroffen. Sachlich und nüchtern kündete es die Gewißheit, daß die vermeintliche Meistergeige das unbedeutende Produkt der gewohnten Serienherstellung war und nichts weiter. -

Was sind Wünsche? Wo sie auftauchen, läßt die Enttäuschung nicht lange auf sich warten. Doch heilsam ist diese, wenn Vernunft und guter Wille sie begreift.

Ein Mann aus der Nachbarschaft mußte von unserem lächerlichen Erlebnis gehört haben. Er kam eines Tages und versuchte uns zu trösten. Vor Jahren habe er eine wirkliche Meistergeige besessen, ein Familienstück. Schon seine Vorfahren hätten sie gespielt, nicht nur zum Gesang ihrer Kinder, sondern auch Sonntags in der Kirche, wenn die Gemeinde sich im Gesang vereinte. Viel sei ihm geboten worden, wenn er sie verkaufen wolle, doch er habe nie daran gedacht, das Heiligtum der Familie gegen schnödes Geld zu vertauschen. Jetzt sei er arm und habe alles im Bombenhagel des Krieges verloren, auch seine Geige.

“sehen Sie”, meinte er, “mein Besitz tut mir nicht leid, er bedeutet mir nichts mehr und selbst eine Geige, die man mit Gold aufwiegen kann, ist nicht alles, wenn ...”

“Wenn was?” fragten wir, als wir sahen, daß seine Augen wie erloschen in die Ferne sahen.

“Ja wenn ......, wenn man mehr verloren hat als das.”

“Noch mehr verloren?”

“Meine Frau und meine lieben Kinder, auch sie gingen mir im Feuer jener Nacht verloren.”

Wir schwiegen.

Nach einer Weile besann er sich, weiterzusprechen. “Seitdem weis ich, daß die Worte, die aus unschuldigen Kinderkehlen ertönen, ungleich wertvoller sind als das, was wir dem Holz eines Instrumentes entlocken können. Lebendiges Leben, das ich verloren, kann mir niemand wiedergeben, auch wenn ich noch so viel besitzen würde.”

War es nun an uns, zu trösten? Wir fühlten uns hilflos. “Und doch”, stammelte ich, “wenn Bach oder Mozart oder Beethoven ertönt, von Händen, die berufen sind, ist da nicht auch Leben, höheres Leben.”

“Ein Trost ist solche Musik, gewiß”, sagte er ernst. “Daß es solche Musik gibt, läßt uns ahnen, daß über uns hinaus etwas ist, was sich nicht begreifen läßt. Wir fühlen uns erhoben und verspüren, wenn wir uns diesen Klängen hingeben, etwas ...”, er stockte verlegen, “.... etwas vom göttlichen Anhauch.”

Entschlossen nahm er die Geige und wog sie prüfend in seinen feingliedrigen Händen. Dann stimmte er die Saiten, straffte den Bogen und besinnlich klemmte er die Geige an sich. Leise Töne atmeten auf, federnd schwollen sie an und staunend vernahm ich ein feierliches Adagio von Mozart. Nie hätte ich geglaubt, daß aus meinem armseligen Instrument ein solches Lied erklingen könnte.

Mit einem Knall riß plötzlich eine Saite und gab das Zeichen, das Spiel zu enden.

“So ist es mir ergangen” sagte der Mann, “ein Knall und es war zu Ende. - Die Saite ist gerissen, ich werde sie bezahlen, wenn ich im nächsten Monat wieder verdiene.”

“Nicht nötig”, sagte ich, “der Trost, den Sie uns spendeten, ist mehr.”

“Dann will ich wieder nach Hause gehen. Es ist zwar keine Meistergeige, was Sie da besitzen, das kann ich mit gutem Gewissen sagen. Doch wäre mancher froh, wenn er sie besitzen könnte.”

“Mancher? Und Sie, haben Sie denn ein halbwegs brauchbares Instrument?”

“Noch nicht. Es könnte sein, daß ich mir bald eines anschaffe.”

“Warum nicht jetzt?”

“Hm. Man muß sparen. Das Leben zu fristen, kostet genug, ich bin nicht mehr kräftig genug, um mehr zu verdienen, als was man zum Nötigsten braucht. Älter wird man und was dann?”

“Ja, was dann”, meinte ich schüchtern, “dann ist Musik mehr denn je nötig für Sie; denn Sie sind ein Meister auf der Geige.”

“Leider nicht, dazu bin ich nicht mehr jung genug. Meine Hände werden zuweilen schwach und dann spiele ich jämmerlich.”

“Was mich betrifft, bin ich nur ein Stümper auf der Geige, unnütz liegt sie bei mir in der Ecke. Bei Ihnen aber wäre sie in guten Händen.” Ich verlangte, daß er sie behalten solle. Sie zu schenken wagte ich nicht, er hätte sich dazu nicht bereit gefunden. Wir einigten uns auf einen angemessenen Preis, der zu bezahlen sei, wann es ihm beliebe.

Lange blickten wir ihm nach, als wir ihn in der beginnenden Nacht zum Gartentor begleitet und ihm dort zum Abschied die Hand gereicht hatten. Bewegt flüsterte meine Frau: “Siehst du, wie er die Geige im Arm hält? Fast wie eine Mutter ihr Kind, das es zu behüten gilt.”

Langsam schritt er den jenseitigen Hügel hinauf und verschwand im Dunkeln.

Alfons Burger (1953/54)

Gespenster

Noch nicht lange wohnten wir in dem Haus, das so freundlich auf dem Hügel steht, umgeben von Ulmen, die am Straßenrand zu ihm hinführen und von Apfelbäumen, Flieder- und Jasminbüschen auf dem Rasen des Gartens. Ungewohnt war uns noch, daß wir in einem Bau wohnen, der ganz aus Holz besteht und aus starken Bohlen gefügt ist, noch wußten wir nicht, fühlten es nur, daß wir in den Räumen von einem Material umgeben waren, das nicht wie der Stein erloschenes Leben ist, sondern noch einen Teil der atmenden Wärme und der verborgenen Lebenskraft enthält, die von den Bäumen stammt, aus denen es gewonnen wurde. In dem geräumigen Wohnzimmer, das wir gemütlich eingerichtet hatten, fühlten wir uns geborgen, wenn das warme Licht der Leselampe die hellen Tapetenwände erschimmern ließ und am gemaserten Holz der Kassettendecke verdämmerte.

Uns störte es auch nicht, wenn ab und zu ein Knistern zu vernehmen war,  das sich gelegentlich irgendwo regte und das wir dem Umstand zuschrieben, daß die Winterkälte draussen und die ihr  wehrende Ofenwärme das Balkengefüge zu fast unmerklichen Bewegungen veranlassen mochte, die ganz natürlich den physikalischen Gesetzen entsprachen. Nach einigen Wochen, als der Raum mit Wärme gesättigt war, schien sich das Knistern verloren zu haben. Vielleicht waren wir auch die Regungen gewöhnt, die allem Lebendigen, wozu auch unser Haus gehörte, eigen sind, so wie wir auch das Ticken der Schwarzwälder Uhr nicht mehr hörten, die in der Ecke unaufhörlich ihr Pendel bewegte.

Eines Nachts jedoch erwachten wir von einem neuen, bisher nicht gehörten Geräusch. Ein deutliches unaufhörliches Summen und Brummen war zu vernehmen, das uns unerklärlich war. Schließlich verließ ich das Bett und überzeugte mich, daß es mehr oder weniger in allen Räumen zu hören war. Ich trat auf den Balkon, in der Hoffnung, ausserhalb des Hauses die Ursache des Tönens zu ergründen. Doch tiefes Schweigen lag über der nächtlichen Natur. Der Rauhreif bedeckte wie mit Zuckerguss die Äste der kahlen Bäume und umkrustete die Drähte der elektrischen Leitungen, die nun im Mondlicht schimmerten wie Perlenschnüre. Eine empfindliche Kälte war in dieser Nacht hereingebrochen und ließ erst jetzt so recht erkennen, daß sich die Macht des Winters in grimmige Formen kleiden wollte.

Ratlos starrte ich hinauf zum fahlen Mond und fragte mich vergeblich, was das aufdringliche Summen zu bedeuten habe. Dabei fasste ich unwillkürlich den bereiften Draht ins Auge, der vom nächsten Mast zum Dach des Hauses führte. Auch von ihm schien ein feines Summen auszugehen, das dort sonst nie zu hören war. Rasch eilte ich hinauf unter den Dachstuhl und lauschte: Hier war das Summen fast ein Brausen und nun war mir alles klar. Der Rauhreif war dem elektrischen Strom, der unsichtbar durch die Drähte stürmte, ein Hindernis, das knisternd und brummend überwunden wurde.

Lachend erklärte ich meiner Frau das Phänomen, dessen Erklärung sie nicht rechtüberzeugen konnte. Darüber mißmutig geworden, wies ich mit sachlichem Ernst darauf hin, daß das das Haus sich ganz gut mit einer Geige vergleichen lasse. Wenn über dem hölzernen Gefäß ein Vibrieren erzeugt werde, könne ein Ton entstehen, der durch die Resonanz sich durch das ganze Haus verbreite. Es sei nur gut, daß solche Töne nur ausnahmsweise in Erscheinung träten, denn solcher Lärm entstünde, wenn alle Kräfte, die sonst schweigend und unbemerkt im Weltall ihr Unwesen treiben, plötzlich geräuschvoll ihr Dasein bekunden würden.

Das hatte sich im Winter ereignet. Nun war es Frühling geworden. Eines Abends, als ich, von einem heftigen Frühlingswind umwogt, nach Hause kam, wurde ich schon am Gartentor von meiner Frau mit Vorwürfen empfangen, warum ich so lange ausbleibe. Im Hause könne sie es allein nicht mehr aushalten, seit einer Stunde wisse sie nicht mehr, was in ihm vor sich gehe. Wortlos begaben wir uns in das Wohnzimmer, setzten uns in das abendliche Schweigen und lauschten.

Alsbald vernahmen wir ein diskretes, aber vernehmliches Klopfen, das sich unregelmäßig wiederholte und unerklärlich war. Zuweilen war es sogar, als ob Schritte auf dem Balkon  dröhnten. Gespensterhaft neigten sich vor den Fenstern die Wipfel der Bäume im Winde. Ich dachte an (Borken-) Käfer oder Tiere, die sich irgendwie zu schaffen machten, doch machten sich gleichzeitig Erinnerungen an meine Jugendzeit breit, in der man mir von gespensterhaften Erscheinungen erzählt hatte. Es war kein Zweifel, daß sich meine Frau fürchtete und die Schauer dieser Furcht berührten auch mich. Mit Wehmut dachte ich daran, wie es sein würde, die liebgewonnenen Räume fernerhin nicht mehr zu bewohnen, wenn die Welt der Dämonen, der unkontrollierbaren Kräfte, hier Einzug halten würde. Doch ermahnte ich mich und wies daraufhin, daß man zunächst das Haus gründlich durchsuchen müsse. Bewaffnet mit einem Stock, zog ich durch alle Räume, lauschend und bereit, dem Störenfried entgegenzutreten.

Nichts fand sich, kein Mensch, kein Tier, kein Gegenstand, der sich bewegte. Von Neuem setzten wir uns hin und lauschten. Es klopfte und hallte beharrlich weiter, diskret und beharrlich, unheimlich genug. Draussen neigten sich die Wipfel der Bäume im Frühlingswind.

Ein Gedanke durchzuckte mich. Rasch erhob ich mich und trat hinaus. Die Nacht war mittlerweilen hereingebrochen. Ich schritt, lauernd und witternd wie ein Tier, das sich in Gefahr wähnt, um das Haus herum. Nicht regte sich. Tastend drückte ich die befestigten Fensterläden. Sie bewegten sich nicht, doch glaubte ich zu bemerken, daß sich einige um ein geringes gelockert hatten. So holte ich Holzstücke und trieb sie als Keil in die Lücken, so fest ich konnte. Als ich das Haus wieder betrat, waren die Geräusche verstummt. “Der Frühlingswind hat uns erschreckt”, sagte ich, “er hat die Fensterläden gelockert und damit Geräusche erzeugt, in einem Hause, dessen Holz gegen Geräusche empfindlich ist, wie das Gehäuse einer Geige.”

Seitdem sind die Gespenster endgültig verschwunden. Nichts stört mehr den Frieden des Hauses und würdevoll lagern die Bäume und Büsche um das Haus wie stille, friedliche Wächter. Wenn der sanfte Wind durch ihre Kronen rauscht und die Düfte ihrer Blüten in die Räume der Häuser trägt, dünkt uns alles gut.

Alfons Burger (Juni 1953)

In Südtirol

Wir fahren nach Italien, nach Südtirol. In einem Abteil ganz allein, ohne umsteigen zu müssen, das ist so, als ob man allein und frei wäre und doch weiß man sich unter vielen Menschen im langen, schnellen Zug. Nach Rosenheim verlassen wir das flache Land und immer höher steigen wir bis zur Grenze in Kufstein und wieder zur Grenze am Brenner. Dann beginnt eine andere Welt, italienische Laute, italienische Menschen. Bis Bozen lautet unsere Fahrkarte, wir aber bedenken jetzt, daß wir in dieser herrlichen Natur bleiben und den Trubel großer Städte meiden sollten. So verlassen wir den Zug schon in Klausen und haben es nicht zu bereuen.

Heiße Luft umfängt uns, das Gepäck lassen wir zunächst im Bahnhof und gehen in die kleine Stadt hinein, die im Grunde genommen nur aus einer engen Strasse besteht, die links und rechts von uralten Häusern eingeschlossen ist. Am Hauptplatz finden wir sogleich ein sauberes Zimmer im Gasthaus zum Hirsch. Ein munter plätscherner Brunnen lässt sich vernehmen und die süß flötende Stimme eines Kanarienvogels, dessen Käfig an der gegenüber liegenden Wand eines Hauses hängt. Vor der Haustüre unter der Rebenlaube essen wir zu Abend, über uns hängen die Weintrauben im Laubengewinde; vor uns das heitere, lebhafte Getriebe der Einheimischen und Fremden. Nachts gehen wir lange durch die Strassen, in denen die altertümlichen Geschirrläden immer noch geöffnet sind. Alles flaniert zum Hauptplatz, um sich dort von der Tageshitze zu erholen.

Ein strahlend heller Tag am anderen Morgen findet uns bereit, uns genau umzusehen. Wieder zeigt sich der Schutzmann auf der Strasse, ganz in Weiß gekleidet, mit weißen Handschuhen, die er auch bei größter Hitze nicht ablegt. Er ist von früh bis spät auf den Beinen, ohne eigentlich tätig zu werden. Es genügt wohl, daß er da ist und die Autorität verkörpert: Nie mit Amtsmine, sonder immer mit Zuvorkommnis, freundlich, hilfsbereit. Auch Alpinis mit ihren schmucken Federhüten zeigen sich, die überall die Brennerlinie bewachen. Noch immer kommt es vor, daß Hochspannungsmasten gesprengt werden. Ich vermeide es daher möglichst, mich dahin zu begeben, wo solche Masten sind, um nicht verdächtig zu erscheinen.
Wir steigen bergan, hinauf zur Burg, die aber bewacht wird und nicht besichtigt werden kann. Weiter geht es hinauf auf den Felsen, auf dem das Kloster Säben thront. Oben herrscht vollkommene Stille. Keine Nonne zeigt sich. Wir betreten die Kirche, wir sind allein. Und doch hören wir den Gesang einer Litanei unsichtbarer Nonnen; es ist wie der Gesang abgeschiedener Seelen. Zwei weitere Kirchen betreten wir, in denen eine mit prächtigen Wandgemälden, Säulenhallen in perspektivischer Sicht darstellend, bedeckt ist.
Draußen am Vorplatz gibt ein Brunnen dem ausgedörrten Gaumen die dringend nötige Kühlung. Wir haben weniger das Gefühl, auf Klosterpfaden zu wandeln, als vielmehr in einer Festung zu sein, deren Zinnen und Türme den Platz beherrschen. Und wirklich war dieser hohe Felsen immer von Bedeutung für dieses Eisacktal, in dem die Völker nach Süden drängten. Einst waren es die Römer und dann die Bischöfe, die hier ihren Sitz nahmen. Eine christliche Akropolis kann man diese Stätte nennen, von der wir jetzt in flirrender Hitze den steilen Felsweg nach unten nehmen, nicht ohne vorher den hölzernen Lastenaufzug zu betrachten, deren oberster Holzbalken derart durchgebogen ist, daß er Schlimmes befürchten läßt. Im Tal angekommen, fühlen wir uns in dessen Schatten wie gerettet von der Hitze des Felsens, die uns im Abstieg auszudörren schien.

Andern Tags ist Viehmarkt am Eisack, die Bauern kommen in ihren blauen Schürzen herbei, zum Teil mit Korb, und ganz eigenen Wägen, die nur zwei kleine Räder besitzen, während die hinteren Räder durch gespreizte Holzleisten ersetzt sind, die dem Wagen auf den Bergwegen den nötigen Halt geben.
In der Kapuzinerkirche suchen wir vergeblich nach Gemälden von Leonardo da Vinci und Tizian und erfahren zu spät, daß diese in der Schatzkammer des Klosters aufbewahrt werden. Eine strenge Verbottafel schreckte uns, als wir das Kapuzinerkloster betreten wollten.

Nach zwei Tagen gelüstet uns nach kühlerer Höhenluft. Wir setzen uns in die Motorpost, einen alten, kleinen Kasten, der sich aber als zäh und verläßlich erweist. Über dem Lenkrad hängt ein Kruzifix mit Rosenkranz. Steil geht es hinauf nach Seis. Ein prächtiger Ort am Fusse des Schlern. Wir wohnen im Hotel Edelweiß, gar freundlich begrüßt von dem jungen Hotelier, einem eifrigen Mann, der es immer eilig hat.

Zweimal fahren wir nun hinaus in dem Klapperkasten zur Seiser Alpe. Die Bauern mähen mit der Sense das kurze Gras, häufen es auf Tücher und bringen es so in die Alphütten, aus denen uns der strenge, würzige Duft des Heus in die Nase steigt. In der weiten Runde stehen überall hohe Berge. In Urzeiten war das Gebiet vulkanisch. Auch diese Alpe war offenbar vor Millionen Jahren ein Vulkan, längst erloschen, doch zeugt die rote Erde und das Porphyrgestein, daß es nicht aus dem Innern der Erde kam. Jetzt ist der Boden überall mit saftigem Grün bewachsen und soll im Frühjahr ein Blütenmeer sein, wie es in dieser Pracht nicht leicht zu finden ist. Das Gedröhne von Flugzeugen läßt uns nach oben blicken. Viele Fallschirme entfalten sich. Italienische Fallschirmtruppen üben im Manöver.
Auch in Seis hält es uns nicht. Nach vier Tagen zum Abschied ein Intermezzo: Die Hotelsekretärin verrechnet sich erheblich zu ihren Gunsten und hat wahrscheinlich in ihren Büchern einen geringeren Betrag eingetragen, als in der Rechnung steht. Erst nach längerer Unterredung ist sie bereit, die Rechnung zu berichtigen und zu quittieren.

Mit Motorpost weiter nach Bozen, durch deren Laubengänge wir wandeln, und von da mit Zahnradbahn hinauf auf den Ritter nach Oberbozen, vorbei an reifenden Weintrauben, Obstgärten mit goldgelben Pfirsichen. Oben sind wir wieder im Krater eines riesigen, erloschenen Vulkans. An manchen Stellen stehen reihenweise Erdpyramiden, deren Entstehung wir lange am abendlichen Eßtisch des Miglerjofs, in dem wir wohnen, mit norddeutschen Studienrätinnen diskutieren. Wir einigen uns schließlich dahin, daß diese Pyramiden dadurch entstehen, daß die rote Porphyrerde durch Zusatz von Wasser klebrig wird und dort, wo große Steine sind, unter diesen die Erde nicht so rasch ausgewaschen werden kann und so unter dem Stein eine Farbsäule bestehen bleibt.

Die Tochter der Miglerhofbäuerin sagt uns, daß weiter unten am Hang ein Mann namens Burger wohnt. Das veranlasst uns, diesen zu suchen. Wir fragen im Untermiglerhof den Bauern namens Josef Figl nach dem rechten Weg. Sogleich lädt er uns zu Wein und Most. In seiner Stube zeigt er uns die eingeschnitzte Jahreszahl 1611 im Balken der Decke. An der Wand sein Wappen, von Erzherzog Leopold 1530 gestiftet. Ein alter Ofen mitten im Raum, über dem ein hölzerner Aufbau errichtet ist, auf dem im Winter vermutlich geschlafen wird. Wir photografieren schließlich drei Ehepaare mit acht Kindern und versprechen, die Aufnahmen zu übersenden. In der Ferne, über dem Giebel der strohgedeckten Scheune, liegt auf der anderen Seite der Schlucht, für uns unerreichbar, weit oben ein alter Hof, der Burgerhof
Wir gehen weiter und kommen an ein neu erbautes Haus, vor dem ein Mann mit einem Knaben steht. Er heiße Burger, sagt er und es gebe mehr dieses Namens in Südtirol.
Er lächelt und dieses Lächeln und sein Gesichtsausdruck läßt uns folglich an unseren Neffen Ernst denken. So mögen wohl meine Urahnen in Südtirol oder in Graubünden in der nahen Schweiz, dessen hohe Berge herübergrüssen, gelebt haben.

Auf dem Heimweg zum Miglerhof steigen wir auf schmalem, steilen Pfad empor, vorbei an einem Bauernhaus, beschattet von Edelkastanien, und bitten die Frau des Hauses um ein Glas Wasser. Mit schlichter Hilfsbereitschaft, wie sie wohl nur in so abgelegenen Gegenden anzutreffen ist, bringt sie nicht nur den Krug mit Wasser, sondern auch eine Bank, die sie zuerst reinigt und dann noch mit Papier belegt, worauf wir zum Sitzen genötigt werden. Wir betrachten die Landschaft und den steilen Hang, an dem die Felder liegen, ein Bild des Friedens, aber auch der Mühsal seiner Bewohner. Lieber wollte sie sich als Magd verdingen, sagte die ledige Tochter der Miglerhofbäuerin, als dort leben. Man könne dort nicht leicht Hilfe finden, wenn man dort erkranke. Wie die Kinder im Winter den stundenlangen schweren Weg zur Schule finden, ist uns unerklärlich.

Am letzten Tag auf dem Ritten ist Kirchtag und nachmittags ein Waldfest. In grünroten Trachten begeben sich die jungen Leute zur Festwiese. Drei Musikkapellen sind aufgeboten und auf kleinen Wagen, von Ochsen gezogen, sind eine Schusterwerkstatt, eine Schmiede, blumengeschmückte Kinder aufgebaut. Voran Reiter und Reiterinnen in alten Trachten mit breitrandigen, federgeschmückten Hüten.
Zuvor jedoch zeigten sich italienische Alpinis, feldmarschmäßig ausgerüstet, mit Gewehren und Maschinenpistolen. Sie fahren absichtlich den gleichen Weg, den der Festzug nimmt, wohl zur Abschreckung vor möglichen Attentaten, die zur Zeit wieder vorkommen.
Auf der Festwiese sind Holzhütten mit Bier und Würsten, Kaffee und Mehlspeis aufgebaut, ein Glückshafen, ein handgetriebenes Karussell, aus Holzbalken auf einfachste Weise zurechtgezimmert, eine kleine Tanzfläche. Auch ein Kegelspiel, ein Boccia, ein Würfelspiel sind da mit je einem angebundenen Preisschild. Alles wird überragt von einem etwa zehn Meter hohen, glatten Mast, den zu erklettern den Burschen nicht leicht fällt. Die gutbesetzte Musikkapelle spielt herrlich, weit besser, als wir es je von dörflichen Musikanten gehört haben. Wir lagern auf dem Grasboden und erfreuen uns dieser einfachen ganz und gar unkompliziert erscheinenden Welt.
Es sind fast nur deutsch sprechende Menschen zugegen. Doch vor uns liegen zwei italienische Familien, unter denen der eine Mann unverkennbar nördlich geprägt ist. Die Knaben beider Familien vergnügen sich, indem sie sich balgen, nie aber auf derbe Art, sondern mit reizvoller Grazie.
Am Abend dieses letzten Tages erstrahlen die Berge ringsum in prächtigen Farben, die Dolomiten ganz in sattem Rot, dazwischen Violett in allen Schattierungen.
Nach sechs Tagen auf dem Ritten müssen wir wieder hinab nach Bozen und von da über den Brennerpaß zurück nach Neu-Ulm.

Alfons Burger (ca.1960)