Peter Burger - 1950-20..

Fredo

Vor Jahren, als ich mit Susanne, meiner damaligen Lebensgefährtin vom Kino heimwärtsging, sah ich in einer frostkalten Winternacht einen Obdachlosen, der mit einer schmutzigen Mütze über das Gesicht gezogen, in einer Geschäftspassage im Stehen schlief. Er tat uns leid und wir kochten eine warme Suppe, brachten diese und etwas Obst und belegte Brote, dazu eine Decke. Er nahm dankend an und blieb wo er war. Am nächsten Abend kam ich und bot an, ihn in eine nahe Obdachlosen- unterkunft zu bringen. Zögernd willigte er ein, da er das turbulente, laute Treiben dort nicht mochte. Unterwegs im Auto erfuhr ich etwas aus seinem langen Leben auf der Straße, den schönen Sommernächten in den duftenden Blumenwiesen unter freiem Sternenhimmel. Er strahlte eine Seelenverwandtschaft ab und seinen wenigen Worten wurde mir die Bedeutung dieser Begegnung, für mich klar. Er blieb eine Nacht im wärmenden Asyl, nutzte dort die Dusche und warme Mahlzeiten. Die Nacht darauf stand er wieder an seinem alten Platz, die von Schmutz strotzende Mütze über das Gesicht gezogen und schlief im Stehen.

In den folgenden Monaten begegnete mir Fredo immer wieder und jedesmal freute ich mich ihn wohl und gesund zu sehen. Immer wenn ich diese wild aussehende Gestalt, mit unrasiertem Gesicht, durch die Straßen wandern sah ging mein Herz auf, da lachte etwas in mir, was ganz tief aus meiner Seele drang. Fredo war immer gut versorgt, einmal trug er zwei paar neue Schuhe bei sich, ein andermal neue Kleidung. Die Geschäftsleute gaben es ihm, manche um ihn loszuwerden, anderen ging es wohl wie mir. Einmal fand ich in einer Telefonzelle ein liegengebliebenes Baguette und sah im gleichen Moment Fredo auf der anderen Straßenseite. Ich sah dies als einen Wink des Schicksals und brachte ihm dies. Doch er lehnte dankend ab, da er genug habe und so kamen wir an diesem Abend völlig unerwartet zu diesem frischen Baguette.

Immer wieder hatte ich das Gefühl einem unbewußten Buddha zu begegnen. Denn er lebte das, was viele spirituelle Jünger vergeblich zu erreichen versuchten, da ihnen letztlich der fragende und wollende Kopf im Weg war. Fredo lebte total aus dem Moment, war immer in Bewegung, fand was er brauchte und schien glücklich zu sein. Vielleicht kannte er nichts anderes und erwartete nichts anderes mehr. Vielleicht war er wunschlos glücklich? Jedenfalls in der Zeit, als er mir sehr häufig begegnete.

Mir half er den Blick zu schärfen, für die einfachen Menschen, an denen wir häufig vorbeigehen. Die leicht übersehen werden, da sie nicht in unserer Bild von Seriösität passen, über die wir voreilig urteilen. Die wir gekonnt übersehen, da dies bequemer ist.

Lyrik eines Landstreichers

Im letzten Jahr hielt ich im Ulmer Buchladen Eichhorn einen Vortrag. Zuvor machte ich einen Stadtbummel und schlenderte am Rand des Münsterplatzes an Geschäften entlang. Plötzlich sah ich einen Rucksack und davor einige Hefte und einen Hut liegen. “Lyrik eines Landstreichers” las ich auf der Titelseite, hob ein Heft auf und blätterte darin. Da hatte sich ein Obdachloser alles von der Seele geschrieben, intensive persönliche Gedanken und Erfahrungen. Ich legte das Heft zurück und als ich weitergehen wollte, sah mich ein Ehepaar enttäuscht an: “Wir dachten Sie sind der Landstreicher!” Ich schüttelte den Kopf und ging in Richtung Fußgängerzone. Auf dem Rückweg sah ich, wie ein grauhaariger älterer Mann den Rucksack schultert und in Richtung Münster geht. Ich eile ihm nach, in einer gewissen Neugierde, und spreche ihn an: “Als ich vorhin Ihre Lyrik las, da wurde ich mit Ihnen verwechselt, da dachten andere Menschen, ich sei der Landstreicher.” Nur kurz dreht er den Kopf und sagt im Laufen. “Das war keine Verwechslung!” Mir bleibt nur die Verblüffung und ein befreiendes Lachen.

Danach denke ich über diese knappe Botschaft nach. Ja er hat Recht, ich streiche durchs Land, halte hier einen Vortrag, gebe Beratungsgespräche, organisiere einmal im Jahr einen Künstlermarkt im Kornhaus. Doch dann steigt es in mir noch tiefer. Im Grunde sind wir alle Landstreicher. Wir streichen solange wir leben durchs Land. Mit der Geburt tauchen wir ein und mit dem Tod gehen wir zurück. Dazwischen streichen wir übers Land. Zeitweise verwurzeln wir, bis der Wind der Zeit uns weitertreibt.

Selten hat mir ein menschlicher Gedanke soviel gegeben, so klar meine Existenz mir bewußt gemacht und dieser Funke wirkt bis heute in mir weiter.

Nachtrag:

Monate später sehe ich im Schweizer Fernsehen, daß ein Berner Verlag den Landstreicher sucht, da dieser dessen Lyrik in einem Büchlein verlegt und bereits über sechshundert davon verkauft hat. Ihm stehen die Tantiemen zu. Ich telefoniere mit dem Verleger und teile ihm mein Erlebnis mit. So komme ich nachträglich zu der "Lyrik eines Landstreichers" mit dem Büchlein "Die Harmonie der Welt" erschienen im Berner Lokwort-Verlag. Nun in gebundener Form erkenne ich, daß ich in Ulm nicht ganz wach war. Da habe ich die Tiefe dieser Lyrik nicht erkannt. Nun aber berührt mich diese tief. Jetzt bin ich voll reif dafür und sehe deutlich die Nähe zwischen ihm und mir. Wenn etwas sein soll, dann kommt es zu einem. Entweder direkt oder indirekt im passenden Moment, zum richtigen Zeitpunkt.

Wasserball

An schönen Sommertagen fahre ich abends immer an den nahen Bodensee und schwimme in dem angenehm warmen Wasser. Auf dem Rücken weit hinaus und per Brustschwimmen wieder retour. Wunderbar sich vom Wasser tragen zu lassen, zu gleiten durch die Weite des Sees, vorbei an Booten und anderen Schwimmern, die es ebenso genießen wie ich. Es ist fast ein Ritual mit großem Glücksgefühl, das für mich mit Sommer verbunden ist.

An einem Abend setz ich mich gerade auf eine Uferbank um mich zu Entkleiden, als ein Wasserball auf dem Wasser heranschwimmt. Ein Kind  hat ihn im nahen Strandbad wohl ins Wasser geworfen und ihn nicht mehr erreicht. Nun treibt er herrenlos leicht an der Wasseroberfläche. Obwohl kaum ein Wind spürbar ist. die Blätter der Bäume kaum Bewegung zeigen, treibt der luftige Ball erstaunlich schnell dahin. In mir ist ein Ehrgeiz entstanden. Ich will ihn mir holen. Ganz schnell entkleide ich mich und schwimm den Ball nach. Und ich schwimme und schwimme und komm kaum näher. Ich werde immer schneller, immer hektischer, mein Atem unregelmäßig und schwer. Ganz langsam wird der Abstand geringer. Schon überquere ich die Einfahrt des Yachthafen und immer noch ist er nicht erreichbar. Erst weit dahinter holte ich ihn ein. Was nun ? Ich kann ihn kaum greifen. So werfe ich ihn vor mir her und schwimme so Etappe um Etappe retour. Selbst hier will er mir noch entrinnen. Hab ich ihn seiner Freiheit beraubt? Ich lass meine Beute nicht aus und bugsiere ihn Stück für Stück ans Ufer. Schließlich erreicht frage ich mich ernstlich, was ich nun mit diesem Ball tun soll? Die Luft rauslassen und ihn mitnehmen? Meinem Hund Oskar zum Spielen geben, der ihn sicher schnell zerbeissen würde.

Da sehe ich zwei Mädchen auf einer Decke sitzen und ganz spontan biete ich den beiden den Ball an. Zuerst sind diese unsicher, ein Geschenk von einem fremden Mann anzunehmen. Als ich von Strandgut spreche nehmen sie ihn mit einem freundlichen Danke. Während ich auf der Bank sitze und mich von der Sonne trocknen lasse, spielen hinter mir in der Wiese zwei lustige Grazien mit dem Ball. Leicht federn diese in durch die Luft und nicht nur die beiden Kinder haben ihre Freude. Mein Auge lebt mit und ein stilles Lachen erfüllt mich.

Nocheinmal schwimme ich den See hinaus, nun entspannt mit ruhigen gleichmäßigen Bewegungen. Danach ziehe ich mich an und mache mich auch auf den Heimweg. Auf einem Seitenweg die beiden Mädchen. Die Ältere ihr Fahrrad schiebend, die Kleinere stolz den Wasserball nachhause tragend. Vom Parkplatz ausfahrend sind beide prompt nochmals vor mir, mich längst nicht mehr beachtend. Nur ich blicke nach, sehe lustige Augen zweier unbeschwerter Kinder.

Auf der Heimfahrt durchziehen mich eigene Erinnerungen meiner Kindheit, meiner Jugend, in der ich mich viel an offenen Wassern bewegte und dort meine Freiheit fand. Für was dieser dahintreibende Ball doch gut war, was er in kurzer Zeit alles in mir und um mich bewegt hatte. Einfach nur ein Ball tanzend an der Wasseroberfläche, einfach dahintreibend. Einfach so.

August 2001

IM ZICKZACK ÜBER DEN BODENSEE

Erlebnisse eines Statisten bei den Filmaufnahmen zu der ZDF-Serie "Drei Witwen".

Die renommierte Gyula Trebitsch Fernsehproduktion aus Hamburg dreht seit drei Wochen im Auftrag des ZDF eine zwölfteilige Serie am Bodensee. Drei Witwen erben von einem Mann gemeinsam ein Haus am Bodensee. Gemeinsam nehmen sie dieses in Besitz und sind sich dabei alles andere als "grün". Aus deren Annäherung und Konflikte ranken sich Geschichten.

Noch bis im Frühjahr soll an verschiedenen Schauplätzen gedreht und die Serie in der zweiten Jahreshälfte 2000  gesendet werden.

Per Kleinanzeige im SÜDKURIER wurden Statisten gesucht und dies reizte mich. So wurde ich prompt für einen Tag engagiert und fand mich um halb neun am Landungssteg in Überlingen ein. Die Co-Regisseurin Beate Faßnacht, aus Konstanz gebürtige Kostüm- und Bühnen- bilderin sammelte fast dreißig Statisten in einem Fahrgastraum des Bodenseeschiffs REICHENAU und bereitete uns auf die Produktion vor. Die Mutter einer der drei Witwen, dargestellt von Ruth Maria Kubitschek, entflieht mit ihrem kleinen Enkel der schwierigen Situation und macht mit diesem einen Ausflug auf die Mainau. Während die bunt zusammengewürfelte Statisten- schar sich näher kommt, wird das restliche Schiff mit viel Technik beladen und schließlich kommt auch Ruth Maria Kubitschek. Mit Brötchen und Kaffee werden die Statisten beschäftigt. Der liebe Rottweiler des Produktionsleiters wandert schmusend zwischen den Stühlen. Gegen 10 Uhr legt das Motorschiff ab und pendelt immer zwischen Überlingen und Wallhausen hin und her. Für jede Aufnahme wird die strahlendschöne Sonne genutzt und muß das Schiff im paasenden Winkel dazu fahren. Da manche Sequenzen mehrmals gedreht werden, muß das Boot immer wieder kehren, kreisen und dann erneut auf den Yachthafen Wallhausen zusteuern. Beate Fasnacht wählt für jede Szene andere Statisten aus und so ist ein ständiger Wechsel. Dazwischen muß eine absolute Stille sein, selbst das Schnaufen sollte unterbleiben. Während anfangs es vielen schwer fällt ihren Mund zu halten, gelingt mit der Zeit allen eine äußerst disziplinierte Stille. Es ist fast ein "Kurs in Schweigen". Spätestens wenn der Ruf des Tonmeisters durch das Schiff hallt "Ruhe, Ton läuft", versinkt die geduldig wartende Schar in sich selbst und lauscht dem plätschern des Wassers am Heck des Schiffes. Die Regieassistentin Lydia fungiert als höfliche Aufpasserin und wenn ihr "Danke" ertönt, atmet alles befreit auf. Schließlich das gemeinsame Aussteigen auf der Mainau, ebenfalls in mehreren Anläufen und dann werden wir von hinten gefilmt, auch wiederum mehrmals. Vorher werden wir darauf aufmerksam gemacht, daß die Handlung im Sommer spielt. Mäntel sollen abgelegt werden (was kaum einer befolgt) und die Wärme wird bestimmend suggeriert, während es uns auf dem offenen Deck des Schiffes selbst im Mantel recht fröstelt. Ebenso lustig ist das mehrmalige Durchschreiten der Mainau-Kasse, wo wir statt Eintrittskarten ein Info-Prospekt erhalten. Nun noch eine Szene beim Palmenhaus. Frau Kubitschek spielt professionell ruhig ihre Rolle. Der kleine Junge macht ebenfalls prächtig mit, abgesehen von einigen Versprechern. Das junge Regieteam hat seine Freude daran. Da ich für diese Szene nicht gebraucht wurde, half ich dem Aufnahmeteam bei der Abschirmung der vielen neugierigen Mainaubesuchern. Denn es geht nicht, daß die Menschen in die Kamera starren. Deshalb braucht man zur Darstellung des normalen Lebens engagierte Statisten, die wissen, daß man wegzugucken hat. Fünfeinhalb Stunden Kreuzfahrt über den Bodensee mit Kurzbesuch der Mainau gegen DM 80,- Aufwandsentschädigung. Vielleicht bin ich ja in den siebzig Sekunden im Fernseher zu erleben, die an diesem Tag gedreht wurden. Möglicherweise nur wenige Sekunden von hinten. Es war einfach ein Spass für mich, die anderen Statisten und für die Älteren darunter, die anschließend noch im Altersheim gebraucht wurden. Dazu wurde das Haus des Gastes in Überlingen umgestaltet. Ist eben Kino und inszeniertes Leben, besser Traumwelt. Was diese Träume kosten, konnte ich nur erahnen. Dieser Drehtag hat sicher über zehntausend Mark gekostet. Ein heller Wahnsinn! Wer als Statist daran teilnehmen will, sollte eine Bewerbung mit Foto an Gyula Trebitsch Fernsehproduktion, zu Händen Frau Fasnacht, Schloßplatz 11, 88709 Meersburg senden. Wer Glück hat, wird angerufen und kann hinter die Kulissen blicken.

7.10.1999

Eremit auf Reisen

Wenn ich mit meinem Wohnmobil mich auf Wanderschaft begebe, lass ich mich treiben, wohin der Fluß des Weges mich führen will. Da gibt es ein Ziel, das nicht statisch festgeschrieben ist. Manchmal erreiche ich es oder komme wo ganz anders an. Das überlasse ich den Wegen, den schönen Plätzen in der Natur und den Zufällen, die am Straßenrand auf einen warten.

Im letzten Dezember fuhr ich wieder in mein “geliebtes Portugal” besuchte dort Freunde und lies mich von einem schönen Platz zum Nächsten treiben. Mal war es der schöne Meeresblick der mich rasten lies, dann der Regen und Sturm der mich weitertrieb. Jeden Tag andere wandernde Nomaden als Nachbarn. Manche traf ich oft und andere nur selten. Aber immer ein freundlicher Gruß, ein Hallo, manchmal ein Plausch mit diesen freiheitssüchtigen Winter- flüchtlingen. Mein Hund Oskar hatte bald seine Spiel- kameraden mit denen er raufte, bellte und tobte. Wenn ich auf die bekannten Plätze fuhr heulte er schon vor Begeisterung, da er seine Freunde laufen sah. Immer war etwas in Bewegung und doch war es eine bewegliche Gemeinschaft. Da der achtzigjährige Peter aus München mit einem uralten Mobil, der mit seinem Hund dort allein reiste. Ein ganz ausgeglichener alter Herr, der seinen Frieden hatte. Daneben ein vergittertes Mobil einer allein reisenden Stuttgarterin, die nun rechts der Isar in München lebt, wenn sie nicht umher wandert. Daneben das Mobil ihrer Freundin, einer scheuen vorsichtigen Belgierin mit kleinem frechen Kläffer. Ein paar Meter weiter ein Paar aus Tirol. Er saß den ganzen Tag davor und schnitze Herrgotts- und Marienfiguren und kleine geschwungene Delphine. Kleine Mitbringsel für die Freunde zuhause. Manchmal kreuzten schwere Ungeheuer auf. alternativ ausgebaute Militärfahrzeuge und Lastwagen der ehemaligen DDR-Armee. Alles Bastlertypen, “Selbstausbauer”, Individualisten total. Herrlich fröhliche Gestalten. Am Abend dann ein Lagerfeuer daneben mit Musik und Geschichten. Mein Vollkornbrot mit Philadelphiastreichkäse eine willkommene Gabe dazu. Ich lese einiger meiner neusten Gedichte vor und es entsteht eine tiefe Stille lauschender Zuhörer. Nichts stört diese Idylle. Selbst die über den Platz fahrenden portugiesischen Polizisten sagen nichts. Sie lassen uns sein, tolerieren unser Nomadensein. Manchmal treffen so an die 40 Eremiten-Nomaden zusammen und dann bin ich wieder allein oder mit einem zweiten Mobil in respektvoller Distanz. Ein Schweizer neben mir rangiert die Solarzellen in die Sonne. Er hat sein Büro dabei und lädt über 12 Volt seinen 220 Volt Speicher. Ein Unternehmens- berater auf Abruf. Seine Partnerin, eine Richterwitwe erzählt von den Kriminalgeschichten, die ihr verstorbener Mann schrieb. Die Letzte unvollendete will sie vollenden. Eine Geschichte über das Verschwinden im Nichts. Dem Verschwinden ohne Spuren. Das aufgewühlte Meer gegen die Klippen peitschend gibt Erklärungen dazu. Man müßte mit dem Auto nur über die Klippen fahren, vierzig Meter hinabfallen lassen in das aufgewühlte Meer. Dort würden nur noch Bruchstücke angespült, kein Mann mehr, kein lebendes Zeichen. Wir spinnen den Faden weiter und vollenden im Geist die unvollendete Geschichte.          An diesen Felsen stehen portugiesische Fischer und werfen die Angeln in die tosende Tiefe. Meist gut angeleint in die Tiefe starrend. Ganz Mutige ohne Sicherung mit Turnschuhen am äußersten Klippenrand. Berauschte Seiltänzer sich dem Tod trotzend stellend, hinabstarrend mit dünner Schnur dem Meer etwas zu entlocken. Roulette total. Jeden Herbst, wenn die mächtigen Stürme vom Westen her peitschen, werde einige hinabgefegt auf nimmer Wiedersehn. Es ist eine Sucht sich dem Unendlichen zu stellen, ihm etwas abzuringen und selbst Tod zu sein, für Fische des unendlichen Kreislaufs.

An einer anderen Küste stehen zwei Autos mit deutschen Kennzeichen. Die beiden Männer tanzen auf Surfbrettern wie waghalsige Akrobaten durchs windgepeitschte Meer. In wahnsinniger Geschwindigkeit weit hinaus, um einen in Sicherheit verankerten Frachter herum, retour und wieder hinaus. Dazwischen ein Salto, eine Wasserlandung und ein neues Spiel mit dem Wind und den Wellen. Irgendwann kommen zwei durchgefrorene Gestalten an Land, strahlende Gesichter, high - berauscht, total erfüllt als Bezwinger des Meeres, der Gewalten und sich selbst. Vergessend aller Gefahren. Am Tag vorher waren zwanzig Kilometer entfernt zwei Surfer gegen einen Felsen gejagt. Er tot, die Frau überlebte schwer verletzt. Solche Unfälle passieren dort jede Woche.

So bin ich als Eremit auf Reisen ein Beobachter des Ganzen, des Momentes wo ich bin, schau einfach hin und bin. Erleb mich durch andere, leb mit den Traum der Berauschten, leb mit die kleinen Feinheiten am Wegesrand. Leb ganz im Sehen und einfach Sein.

Mai 2001

Mazzaron, etwa 100 km nördlich von Almeria an einem Sonntag im November 2001:

Nach schwerem Regen, die Strassen und Plätze voll Seen, die Sonne wieder voll am Himmel steht. Ich parke in einer Seitenstrasse, einer Sackgasse hin zum  Meer. Einige Hunde lungern herum und lauern auf Leckereien. Altes Brot interessiert sie nicht. Die Läden der Ferienhäuser sind fast alle geschlossen. Nur aus einem Haus dringt der Klang einer Gitarre, dem ich folge. Auf der Terrasse sitzt ein junger Mann und improvisiert typisch andalusische Weisen auf der Gitarre. Ich setze mich auf die andere Seite mit Blick aufs Meer, lasse mich von der Sonne wärmen und blicke in deren Reflektionen in den sanften Wellen.  Traumhaft schön, nur das Meer, die Sonne und die tiefen rhythmischen Klänge des  Mannes, der da meditativ versunken spielt. Ich bin Teil des Ganzen, ungestört  durch andere Geräusche, selbst die Hunde hören mit. Nach einer Weile, waren es zehn Minuten oder eine Stunde, hebt er seinen Kopf und schaut mich an, so als  würde er auftauchen aus einer anderen Welt. Wir nicken uns kurz höflich zu und ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Schon beginnen seine Finger wieder auf den  Saiten zu tanzen und er kehrt zurück zu seiner Geliebten, die er da in seinem Schoss hält. Vorsichtig still ziehe ich mich zurück, dankbar Voyeur einer  andalusischen Liebe gewesen zu sein, die mich verbunden mit Platz und Mentalität, mit der Seele eines Ortes, eines Volkes in dem Orient und Okzident  sich vereinen.

2001
 

Weitere Geschichten
und Gedichte

Mein Verständnis von Freiheit und Frieden

Wie froh bin ich in friedliche Zeiten geboren zu sein, in ein Land mit Grundrechten, die grossen Freiraum der Entfaltung bieten, gedanklich, verbal und in der Tat. Ich kann gar nicht alles nutzen, kann auswählen aus einer Vielfalt an kreativen Möglichkeiten. So empfand ich nie wirklich Mangel und keine Furcht um mein Leben. Wie begnadet in dieser Welt, wo zum Greifen nahe immer wieder die Unfreiheit, der Mangel, die Verletzung und Folter regiert, die Erniedrigung aus politischen, ethnischen oder religiösen Motiven. Sitze im Glashaus und schau unter der Glasglocke hinaus in den begrenzenden Wahnsinn. Früher die DDR, Irland, Libanon, Libyen, die zerbrechenden Teile Jugoslawiens, der Iran der Ajatollahs, nun der Irak und die Palästinenser auf verlorenem Land, der Wahnsinn in Afganistan, Tschetschenien, Kaschmir und und und .....

Reise durch Europa und genieße Kultur und den Schutz meines deutschen Passes. Könnte Augen und Ohren verschliessen und übersehen was mir so begegnet an Leid am Strassenrand, was Betroffene erzählen und was ich von Asylbewerbern hier höre und lese. Könnte einfach nur mich leben, die ganze Schönheit meines Lebens genießen, würde nicht immer wieder mein Herz mitfühlen und erspüren der anderen Leid.

Ein “Buch für den Frieden” zugunsten Amnestie International, wunderbar dachte ich und mir fiel ein, dass ich da auch mal Mitglied war, einige Petitionen unterschrieb und mich dann doch wieder zurückzog. Warum eigentlich? War es mir unbequem oder nur zu unpersönlich, zu weit weg für meine Art der Wahrnehmung? Ich denke gerade darüber nach und dabei fallen mir so ganz persönliche Begegnungen ein und Geschichten, die nie geschrieben wurden, nur erlebt aber nie ganz vergessen. Nun schreibe ich sie nieder, gegen das Vergessen, für die Freiheit und den Frieden derer die ihn nicht so haben, wie ich:

1968 war ich mit einer Reisegruppe in der Tschechoslowakei, es pulsierte der Prager Frühling und es war dort eine Lebendigkeit und Hoffnung mit Dubcek. Ich organisierte Theaterkarten für unsere Gruppe und so besuchten wir die schönsten Aufführungen dieses kreativen Volkes. Für die berühmte “Laterna Magica” blieb mir eine Theaterkarte übrig und ich verkaufte sie vor der Kasse ganz fair zum Einkaufspreis an einen einzelnen Mann, der dann im Saal neben mir sass. Es war ein Russe und wir verständigten uns mit den Händen und der Mimik. Er war mir für die Karte sehr dankbar und schenkte mir eine Ansichtskarte seiner Heimatstadt Odessa. Da war menschlicher Frieden zwischen zwei einfachen Menschen, die sich politisch kaum begegnet wären. Ein Brückenschlag zweier Welten. Wenige Wochen nach der Heimkehr kam der Winter nach Prag zurück und die russischen Panzer beendeten alle Hoffnung nach Freiheit und Frieden.

Viele Künstler mussten ihre Heimat verlassen und suchten Asyl bei uns. Einer war der Pantomime Dusan Parizek mit dem ich später viel zusammenarbeitete. Seine Angst vor den Russen war so groß, dass ihm selbst Deutschland nicht sicher schien und er am Liebsten in die Schweiz gezogen wäre. Nun nach der Öffnung des Ostens ist er wieder heimgekehrt zu seinen Wurzeln, da er nun wieder in Frieden dort leben kann.

Bei einem kleinen Circus in Sizilien, bei dem ich vor etwa dreißig Jahren einen Winter verbrachte, war ein junger Ägypter aus gutem Hause, den seine Eltern vor dem Sechstagekrieg zu seiner Sicherheit ins Ausland schickten. Nun galt er als Deserteur und wäre zuhause sofort erschossen worden. Unter falschem Namen und der Hilfe der italienischen Circusfamilie konnte er überleben. Ein sehr gescheiter junger Mann, mit dem ich mich in meinem schlechten englisch viel unterhielt. Ein Intellektueller, der nun als einfacher Arbeiter und Fahrer sich seine Freiheit und Leben erhielt.

In Tübingen traf ich Jorge Villalon, einen chilenischen Liedermacher, der uns seine Heimat Südamerika näher brachte. Nach dem Sturz von Allende musste er sein Land verlassen. Hier im Exil fand er seine Frau Rosalba kennen, die aus Kolumbien stammt und hier wurde 1978 sein Sohn geboren. Im Chor “Canto General” von Neruda / Theodorakis trat Jorge, als Sänger, zum erstenmal wieder mit anderen Musikern auf, seit er von zuhause weg war. Dort, in dem Dorf Illapel, hatte er mit einer Gruppe zusammengespielt. Ein Musiker und einfacher Mensch, der für Allende sympathisierte und nach dessen Sturz wie viele andere, die nur anders dachten als Diktator Pinochet, zum Staatsfeind wurde und um sein Leben fürchten musste.

Meine erste grosse Liebe war eine Elsässerin, die deutsche Mutter aus Schramberg im Schwarzwald, der Vater Elsässer und lebte in Strassburg. Liliane lernte ich auf einem Zeltplatz in der Schweiz kennen und genoss ihr fröhliches Naturell. Später lebte ich in einem Lehrlingsheim und teilte das Zimmer mit Pierre, dessen Vater französischer Militärangehöriger in Friedrichshafen war, seine Mutter war deutsch. Mit Beiden erlebte ich die Zerrissenheit zweier Seelen, der deutschen Gründlichkeit und der französischen Tiefe. Liliane heiratete einen Franzosen und Pierre eine Französin. Beide leben im Land ihrer Väter, wo sie Heimat fanden. Aber sind sie da auch wirklich frei? Als ich vor vielen Jahren Pierre in seiner Wohnung in Blois an der Loire besuchte, seine liebe Frau und Kinder kennen lernte, da zeigte der “deutsche Pierre” auf die schlechte Handarbeit französischer Türrahmen und meinte fast trotzig “das würde es in Deutschland nicht geben”. Aber als Frankreich den letzten Atombombentest machte und ich in einem Brief den Sinn dieser Machtdemonstration in Frage stellte, kam der französische Staatsdiener voll durch und seitdem hat unsere Freundschaft einen Knacks bekommen.

Wie frei sind wir in unseren Zugehörigkeiten, in den Gefühlen, die uns mit dem Platz verbinden, den wir als Heimat empfinden. Wie brüchig ist der Frieden aus solchen Kleinigkeiten, dass eine andere Sichtweise entzweien kann, was jahrelang verbunden.

Die Route de Cretes in den Südvogesen ist heute eine Panoramastrasse. Im ersten Weltkrieg erbaut, war sie für den kriegerischen Nachschub. Links und rechts des Bergkamms ist jeder Quadratmeter mit deutschem und französischem Blut getränkt, die Narben der Bomben immer noch zu sehen, überwuchert von heilender Natur, wo heute französische und deutsche Wanderer diese gemeinsam genießen.

Wie weit weg ist diese Geschichte oder doch noch ganz nah!

In meiner Geburtsstadt Landsberg am Lech organisierte ich mal eine Dichterlesung mit Luise Rinser, die in dem Dorf geboren war, in dem meine Mutter lebte. Geboren in dem gleichen Haus, in dem Jahre später ein Kusine von mir zur Welt kam. Viele Parallelen führten zwangsläufig zu der Beschäftigung mit der weltweit bekannten Schriftstellerin, die immer unbequem schwierige Themen ansprach und deswegen auch oft angefeindet und ausgegrenzt wurde. Nur weil sie den Mut hatte eine kritische Katholikin zu sein und die Kirche und Vatikan offen zu kritisieren. So wurde sie öfters von Veranstaltungen ausgeladen, aus bayrischen Schulbüchern und Bibliotheken entfernt, im Dritten Reich war sie einige Zeit in Haft (Das Gefängnistagebuch). Ihr freigewähltes Asyl war in den Albaner Bergen nahe Rom und nur zeitweise lebte sie noch in Deutschland. Meine Begegnungen und Gespräche mit ihr veränderten viel an meiner Wahrnehmung von Freiheit und ich bewunderte ihren Mut, sich all diesen Widrigkeiten zu stellen und trotzdem immer wieder für den Frieden unter den Menschen zu schreiben. Selbst der Dalai Lama würdigte dies, in dem er mit ihr eine Woche intensive Gespräche im indischen Dharamsala führte. Im Herbst 2001 verstarb sie und ruht nun in Wessobrunn, unweit des Grabes eines Schulfreundes, der durch einen Unfall sehr früh mich verließ.

Von 1976 bis 1979 war ich Werbeleiter am Landestheater Württemberg-Hohenzollern in Tübingen. Eine fruchtbare Zeit mit vielen besonderen Begegnungen aus aller Welt. Die Stadt sprühte voll Freigeister und Querdenker. Was wir damals machten, wurde “linkes Theater”, also zeitkritisches Theater genannt und viele alte Abonnenten kündigten. Die Jugend zog ein und stellte kritische Fragen. Jedoch der Kulturpapst der Schwäbischen Zeitung dirigierte mit und erzeugte Zwänge, die eine langfristige Arbeit des Intendanten Alf Reigl zunichte machten. Auch die Kunst ist nicht wirklich frei, sondern wird von Apparaten und Kritiken beeinflusst. Aber in diesen Jahren wuchs meine Freiheit im Geist, denn nur so kann man sich selber entdecken und finden. Die Sprache ist der kreative Ausdruck, der letztlich auch zwischen Krieg und Frieden entscheidet, zwischen “Himmel und Hölle”, die immer, in jedem Augenblick, präsent und lebbar sind. Der Frieden in unserer Welt beginnt im Geist jedes Einzelnen und jeder beeinflusst das Ganze, wie auch das Ganze jeden Einzelnen prägt.

Als ich 1985 zum ersten Mal nach Portugal kam und das schöne Dourotal hinunter fuhr, erlebte ich die Aufbruchstimmung der Heimkehrer, die während der Diktatur Spinolas die Heimat verlassen mussten, in Deutschland, USA und anderen Heimat hart gearbeitet und etwas Kapital angespart hatten. Überall neben den Strassen waren wandernde Baustellen und die Hausfassaden bekamen neue Farbe, die holprigen Strassen einen neuen Belag. Nach langer Zeit der Stagnation kam wieder Bewegung in das Land. Neben der Strasse wuschen die Frauen noch in den Waschhäusern und winkten uns freudig nach. Aber auch immer noch gab es Horden von Landarbeitern, die noch nie Bargeld in den Händen hatten, denn sie wurden nur per Naturalien entlohnt. Hatten gerade das Allernötigste und wanderten von Feld zu Feld, von einer primitiven Hütte zur nächsten. Noch sah ich Familien in Holzhäusern aus Strandgut, was das Meer gerade so angeschwemmt hatte. Daneben die neuen Villen, die die Heimkehrer erstellten und mit Enthusiasmus neue Geschäfte schufen. Die Einen stolz in ihrer alten Heimat, die Anderen voll Wehmut der verlorenen Freude im Asylland. Der Riss ging oft mitten durch die Familien. Ein Portugiese freute sich, dass er mich in seinem neuen Cafe in Coruche bewirten konnte und mal wieder was über Deutschland erfuhr, wo es ihm gut ergangen war und er es nur zwiespältig verlassen hatte. Seine Frau und Tochter schauten ärgerlich zu uns, da ihnen diese Wehmut des Mannes und Vaters gar nicht gefiel. Sie waren im Aufbruchsgeist gefangen und nutzten die neugewonnene Freiheit.

In Freiburg begegnete ich einem jungen Malergesellen, der mit seiner Mutter die andere Seite Deutschlands verlassen hatten. Er fühlte sich da unfrei, wollte frei sein, frei reisen können. Dort gehörte er zu den Zeugen Jehovas, die in der DDR nur im Verborgenen eine Gemeinschaft bilden konnten. Nun im Westen war er total irritiert über deren Missionsdrang und distanzierte sich immer mehr davon. Er hatte eine gute Arbeit, war sehr beliebt, hatte alle Freiheiten und seine Mutter bei sich. Aber die Schwester hatte er zurückgelassen und den geliebten Schäferhund. Hier fühlte er sich nun heimatlos, da er ja nicht zurück konnte, keinen Besuch dort machen. Jetzt, da er neue Länder erkunden hätte können, nutzte er es nicht. Obwohl das Elsass keine zwanzig Kilometer entfernt, hatte er diese Grenze noch nicht überschritten. Er konnte es, aber brauchte es nicht mehr. Nun suchte er seine Heimat und litt im Stillen.

Die Eltern meiner geschiedenen Frau stammten aus Schlesien und so begleitete ich die Schwiegermutter und deren Schwester auf einer Busreise in die alte Heimat. Gab etwas Kraft dazu, sich der Vergangenheit noch mal zu stellen. Erste Station war Opole, das frühere Oppeln. Trostlosigkeit in den Strassen, überall Bauzäune vor Ruinen. Im Hotel gab es perverserweise immer Coca-Cola, aber das Piwa, das einheimische Bier ging immer wieder aus und war rationiert. Nur ein Beispiel des internen Chaos. Von hier aus besuchten wir das Dorf wo sie einst lebten und fanden noch die alten Tapeten an den Wänden. Die polnische Familie hatte in vierzig Jahren kaum etwas verändert, da sie nicht wussten ob die alten Besitzer wieder kämen. Sie selbst waren Flüchtlinge aus Gebieten nahe der russischen Grenze. Ängstlich betrachteten sie unser Kommen und waren erleichtert als sie erfuhren, dass keiner in das Haus zurück kommen wollte. Die Strasse hatte keinen Kanal, alle Abwässer flossen über die Strasse. Aber die Herzlichkeit der Menschen war groß, sie dankten für die Pakete aus dem Westen voll Schokolade und Südfrüchten, die ihnen lange das Leben etwas verbessert hatten. Die Bewirtung war überschwenglich und auch voller Komik. Wir nahmen aus Höflichkeit die Geschenke, obwohl vieles keinen Platz in unserem westlichen Leben haben würde. In der Dorfkirche war eine Taufe und ich fragte, ob ich fotografieren dürfe. Ich kam wie das Geschenk des Himmels und wurde gefragt, ob sie einen Abzug haben könnten, denn einen Fotografen konnten sich die jungen Leute nicht leisten. Nach der Heimkehr schickte ich ein Foto in einem Kunstlederrahmen nach Polen und hörte später etwas über die Riesenfreude dieser Familie.Für mich war es eine kleine Geste und dort war es ein Glück, was wohl alle Zeiten überdauern wird, so wie die alten vergilbten Fotos meiner Grosseltern.

Vor Jahren, als ich mit meiner damaligen Lebensgefährtin vom Kino heimwärts ging, sah ich in einer frostkalten Winternacht einen Obdachlosen, der mit einer schmutzigen Mütze über das Gesicht gezogen, in einer Geschäftspassage im Stehen schlief. Er tat uns leid und wir kochten eine warme Suppe, brachten diese und etwas Obst und belegte Brote, dazu eine Decke. Er nahm dankend an und blieb wo er war. Am nächsten Abend kam ich und bot an, ihn in eine nahe Obdachlosenunterkunft zu bringen. Zögernd willigte er ein, da er das turbulente, laute Treiben dort nicht mochte. Unterwegs im Auto erfuhr ich etwas aus seinem langen Leben auf der Straße, den schönen Sommernächten in den duftenden Blumenwiesen unter freiem Sternenhimmel. Er blieb eine Nacht im wärmenden Asyl, nutzte dort die Dusche und warme Mahlzeiten. Die Nacht darauf stand er wieder “frei” an seinem alten Platz, die von Schmutz strotzende Mütze über das Gesicht gezogen und schlief im Stehen.In den folgenden Monaten begegnete mir Fredo immer wieder und jedesmal freute ich mich ihn wohl und gesund zu sehen. Immer wenn ich diese wild aussehende Gestalt, mit unrasiertem Gesicht, durch die Straßen wandern sah ging mein Herz auf, da lachte etwas in mir, was ganz tief aus meiner Seele drang. Fredo war immer gut versorgt, einmal trug er zwei paar neue Schuhe bei sich, ein andermal neue Kleidung. Die Geschäftsleute gaben es ihm, manche um ihn loszuwerden, anderen ging es wohl wie mir. Einmal fand ich in einer Telefonzelle ein liegengebliebenes Baguette und sah im gleichen Moment Fredo auf der anderen Straßenseite. Ich sah dies als einen Wink des Schicksals und brachte ihm dies. Doch er lehnte dankend ab, da er genug habe und so kamen wir an diesem Abend völlig unerwartet zu diesem frischen Baguette. War das die wahre Freiheit, der schien seinen Frieden mit sich und der Welt zu haben und er bewirkte etwas bei den Menschen, denen er begegnete. Hinter diesem bärigen Kerl verbarg sich eine Ausstrahlung die viele Herzen öffnete.

Noch tiefer ging eine Begegnung vor ein paar Jahren. Im November 1998 hielt ich im Buchladen Eichhorn in Ulm einen Vortrag. Zuvor machte ich in einem alten Parka einen Stadtbummel und schlenderte am Rand des Münsterplatzes an Geschäften entlang. Plötzlich sah ich einen Rucksack und davor einige Hefte und einen Hut liegen. ”Lyrik eines Landstreichers” las ich auf der Titelseite, hob ein Heft auf und blätterte darin. Da hatte sich ein Obdachloser alles von der Seele geschrieben, intensive persönliche Gedanken und Erfahrungen. Da ich meine Lesebrille nicht dabei hatte legte ich das Heft zurück und als ich weitergehen wollte, sah mich ein Ehepaar enttäuscht an: ”Wir dachten Sie sind der Landstreicher!” Ich schüttelte den Kopf und ging in Richtung Fußgängerzone. Auf dem Rückweg sah ich, wie ein grauhaariger älterer Mann den Rucksack schultert und in Richtung Münster geht. Ich eile ihm nach, in einer gewissen Neugierde, und spreche ihn an: ”Als ich vorhin Ihre Lyrik las, da wurde ich mit Ihnen verwechselt, da dachten andere Menschen, ich sei der Landstreicher.” Nur kurz dreht er den Kopf und sagt im Laufen. ”Das war keine Verwechslung!” Mir bleibt nur die Verblüffung und ein befreiendes Lachen. Danach denke ich über diese knappe Botschaft nach. Ja er hat Recht, ich streiche durchs Land, halte hier einen Vortrag, gebe Beratungsgespräche, organisiere Veranstaltungen. Doch dann steigt es in mir noch tiefer. Im Grunde sind wir alle Landstreicher. Wir streichen solange wir leben durchs Land. Mit der Geburt tauchen wir ein und mit dem Tod gehen wir zurück. Dazwischen streichen wir übers Land. Zeitweise verwurzeln wir, bis der Wind der Zeit uns weitertreibt. Selten hat mir ein menschlicher Gedanke soviel gegeben, so klar meine Existenz mir bewußt gemacht und dieser Funke wirkt bis heute in mir weiter.

Nachtrag: Monate später sehe ich im Schweizer Fernsehen, daß ein Berner Verlag den Landstreicher sucht, da dieser dessen Lyrik in einem Büchlein verlegt und bereits über sechshundert davon verkauft hat. Ihm stehen die Tantiemen zu. Ich telefoniere mit dem Verleger und teile ihm mein Erlebnis mit. So komme ich nachträglich zu der "Lyrik eines Landstreichers" mit dem Büchlein "Die Harmonie der Welt" (ISBN 3-906786-12-9) erschienen im Berner Lokwort-Verlag. Nun in gebundener Form erkenne ich, daß ich in Ulm nicht ganz wach war. Da habe ich die Tiefe dieser Lyrik nicht erkannt. Nun aber berührt es mich tief. Jetzt bin ich voll reif dafür und sehe deutlich die Nähe zwischen ihm und mir.

Wenn etwas sein soll, dann kommt es zu einem. Entweder direkt oder indirekt im passenden Moment, zum richtigen Zeitpunkt. Dieser "Landstreicher", ein ehemaliger Schriftsetzer aus der DDR, der alles zurückgelassen hat, nur mit Rucksack und Fahrrad durch Europa radelt, ist für mich ein heute lebender Laotse. Denn seine Lyrik geht tief und beschreibt in einfachen Gedanken das Unfassbare.

Mir wird bewußt, daß zu Frieden und Erleuchtung nicht mehr gehört, als zu sein und sich selbst total zu leben. Das eigene Ich zu erkennen, zu akzeptieren und die persönliche Freiheit zu lieben. Und dann ganz authentisch zu sein, an dem Platz, wo das Leben mich hinstellt. Dann bin ich in Frieden mit mir und der Welt, bin frei wo ich gerade lebe.

Aber schon taucht Zweifel in mir auf, wäre dies auch in einem Land mit totalitären Regime, wo ich meine Gedanken nicht frei äußern kann. Die Schriftsteller des Ostens, von Mrozek, Ionesco bis Kohout haben mit dem “absurden Theater” ihre Sprachform gefunden, in der sie sich ausdrücken konnten und deren Leser und Zuschauer haben dies verstanden. Sie hatten ihren Freiraum, nutzen ihre sprachliche Freiheit, suchten darin ihren Frieden. Jeder nutzt die Nischen, die das Leben einem bietet, auch wenn es in diktatorischen Ideologien manchmal sehr wenig ist.

Die wahre Unfreiheit beginnt jedoch mit der Begrenzung durch den Staat und der Bestrafung für Grenzverletzungen des Geistes und der Sprache, wenn sich Ideologien und persönliche Überzeugungen reiben. Wenn ich jedes Wort vorsichtig “umdrehen” müsste bevor ich es spreche oder gar niederschreibe. Wenn ich Angst haben müsste mich unbeschwert ausdrücken zu können, wenn Strafe und Folter mich erwarten, mein unbeschadetes Leben dadurch gefährdet wäre.

Galileo Galilei: “Lasst Philosophien sterben, anstatt Menschen!”     Dieser Satz hat sich tief in mir eingeprägt, mir dem Rebell gegen Konventionen, dem Unrecht immer wieder begegnete, das mich aufwühlte und mich in meinem grossen Freiheitsbewusstsein traf.

Inzwischen, mit den Jahren, habe ich mich als Spielball begriffen, der durch ein Leben rollt, munter hüpft, mal aneckt und irgendwann ausrollt. Als bunter Ball kann ich andere erfreuen, kann Freiheiten aufzeigen und mit meinem Sein auch Frieden sein, einfach Ich sein, so wie ich jetzt bin in meinem Bewußtsein von Freiheit und Frieden. Alle Begegnungen meines Lebens waren mir Spiegel auf dem Weg und führten mich dorthin, wo ich jetzt stehe, sehe und schreibe. Für den Frieden, für die Freiheit und die Liebe. Mehr kann ich nicht, aber ist es nicht genug? Muss ich mit allem mitleiden oder einfach nur verstehen, fühlen, Anteil am Leid anderer nehmen und dankbar sein, für die Gnade meiner Freiheit und dem Glück in einer Zeit des Friedens geboren zu sein.

Peter Burger (2002/2003)

Veröffentlicht in dem Buch: MENSCHLICHKEIT - HUMANITY zugunsten Amnesty-International; ISBN 3-035192-62-2